Montag, 9. November 2009

One World - Bemerkungen zu dem Buch von Peter Singer

Peter Singer wollte mit seinem 2002 erschienen Buch „One World“ eine Ethik der Globalisierung schreiben. Er gilt als einer der umstrittensten, aber auch der einflussreichsten Philosophen englischer Sprache der Gegenwart. Sich mit ihm zu beschäftigen, lohnt sich.

Singer will, wie er im Vorwort zur ersten Auflage seines Buches schreibt, die zunehmende Verflechtung (interconnectedness) des Lebens auf unserem Planeten beschreiben und in einem zweiten Schritt ein Rezept (prescription) für eine neue Grundlage unseres Denkens anbieten.

Singer versucht nicht, den viel gebrauchten Begriff der Globalisierung zu definieren, sondern erwähnt Beispiele für den globalen Wandel, den wir erleben – von der globalisierten Wirtschaft über den Klimawandel bis zu humanitären Interventionen und dem Kampf gegen globalen Terrorismus. Er erwartet, dass die neue Interdependenz die materielle Basis für eine neue Ethik liefert. Wenn die Revolutionierung der Nachrichtenverbindungen ein „globales Auditorium“ schaffe, könnten wir uns gedrängt fühlen, unser Verhalten gegenüber der ganzen Welt zu rechtfertigen. Letztlich postuliert Singer die Bildung einer Weltgemeinschaft, die an die Stelle der Staaten treten soll. Er zeigt zwar einige Ansätze dafür, aber es gelingt ihm nicht, die tiefe Kluft zwischen dem Verhalten der Staaten und ihrer Ersetzung durch eine Weltgemeinschaft zu überbrücken.

Allerdings gelingt es Singer, zu zeigen, dass das System souveräner Staaten nicht geeignet ist, die globalen Probleme zu lösen: Auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Souveränität der Staaten tatsächlich durch die neue Beweglichkeit des Kapitals eingeschränkt. Die Staaten müssen ihre Politik darauf ausrichten, dem Kapital günstige Bedingungen anzubieten, um das vorhandene Kapital festzuhalten und neues anzuziehen. Die Finanzkrise der letzten Jahre, die Singer nicht voraussehen konnte, hat aber gezeigt, dass der freie Markt keineswegs ein sich selbst steuerndes stabiles System bildet, sondern für Krisen anfällig ist, die sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreiten. Kein einzelner Staat kann sie bewältigen. Nur weltweit geltende Regeln könnten einen gewissen Schutz bieten. Ob es gelingen wird, solche Regeln zu entwickeln und ob sich die Staaten darauf einigen können, ist immer noch eine offene Frage.

In dem Kapitel „One Law“ will Singer zeigen, dass die staatliche Souveränität den Regierungen nicht das Recht gibt, mit ihrer eigenen Bevölkerung nach Belieben zu verfahren. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit sind durch internationale Abkommen verboten. Diese Verbote müssen auch durch Intervention durchgesetzt werden. Dies ist in einigen Fällen auch geschehen, in anderen – z. B. in Ruanda – nicht. Es besteht ein doppeltes Problem: Wie ist zu verhindern, dass humanitäre Gründe nur als Vorwand benützt werden, um eine Intervention zu rechtfertigen? Wie können die Staaten dazu bewogen werden, Streitkräfte und finanzielle Mittel für eine humanitäre Intervention in einem Land bereitzustellen, in dem sie keine anderen Interessen haben?

Auf einer anderen Ebene liegt ein Problem, das Singer unter der Überschrift „One Atmosphere“ behandelt. Er stellt in diesem Kapitel die Gefährdung der Atmosphäre durch die enorm gesteigerte Emission von Treibhausgasen dar. Es geht aber nicht nur um das Klima, sondern um das Erdsystem als ganzes, von dessen Bewahrung die Lebensbedingungen für die Menschheit abhängen. Dass der Mensch durch Wissenschaft und Technik die Fähigkeit erworben hat, das Erdsystem zu stören und sogar zu zerstören, ist etwas Neues in der Geschichte, das uns zwingt, unser Verhalten zu ändern. Daraus ergibt sich der stärkste Impuls für die Entwicklung einer neuen Ethik. Hans Jonas, den Singer nicht zitiert, hat in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ einen Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation vorgelegt. Er liefert eine feste Grundlage für diese Ethik, die man bei Singer vermisst.

Singers Rezept einer Weltgemeinschaft hat vor allem zwei Schwächen:
- Er begründet nicht, warum jeder Einzelne sich künftig mit der Weltgemeinschaft und nicht mit dem eigenen Staat identifizieren, und warum er sich für sie verantwortlich fühlen sollte. Jonas liefert diese Begründung. Sie ergibt sich aus seinem Imperativ „Handle so, dass die Wirkung deiner Handlung verträglich ist mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“.
- Singer zeigt auch weder einen praktischen Weg zu der postulierten Weltgemeinschaft, noch beschreibt er ihre mögliche Struktur.

Dagegen bietet die Weiterentwicklung des Rechts die Möglichkeit, die Souveränität der Staaten schrittweise einzuschränken und die Lebensbedingungen der Menschheit zu schützen. Dadurch wird die Verbindung zwischen Recht und Ethik, die früher durch das Naturrecht gegeben war wieder hergestellt. Es sind vor allem zwei ethische Prinzipien, an die das Recht gebunden ist: Die Würde des einzelnen Menschen, aus der sich die Menschenrechte ergeben, und, damit eng verbunden, die Pflicht zur Bewahrung der Lebensbedingungen der Menschheit entsprechend dem von Jonas entwickelten Imperativ. Die rechtlichen Regeln, die auf diesem Imperativ beruhen, könnte man „Überlebensrecht“ nennen. Dazu gehören die Regeln zum Schutz der Atmosphäre und anderer gemeinsamer Güter, wie dem Wasser. Dazu gehört aber auch die Abschaffung von Waffen, durch deren Einsatz die Lebensbedingungen gefährdet würden, wie die Kernwaffen.

In meinem Essay „Überlebensrecht“ habe ich das näher ausgeführt.

Donnerstag, 28. Mai 2009

Gute und schlechte Atombomben?

Buchrezension: Michael Rühle, "Gute und schlechte Atombomben: Berlin muss die nukleare Realität mitgestalten", Edition Körber Stiftung 2009

Selten sind politische Betrachtungen so schnell unzeitgemäß geworden wie diejenigen, die Michael Rühle in seinem kleinen Buch mit dem – wohl provozierend gemeinten – Titel „Gute und schlechte Atombomben“ angestellt hat. Er warnt darin die deutsche Öffentlichkeit, die – wie er meint – von einer sicherheitspolitischen Gegenelite fehlgeleitet wird, Atombomben als schlechthin böse zu verstehen. Sie seien vielmehr „der ultimative Ausdruck staatlicher Souveränität“. Eine globale Ordnungsmacht wie die USA könne auf nukleare Drohungen – zumindest rhetorische (!) – nicht verzichten.

Das Buch war kaum erschienen, als der Präsident der „globalen Ordnungsmacht“ erklärte, die USA wollten Friede und Sicherheit ohne Kernwaffen herstellen. Und das war nicht nur Rhetorik: Obama beschrieb in seiner Rede in Prag auch die ersten Schritte auf dem Weg, den die USA auf dieses Ziel hin gehen wollen.

Wenn Rühle eine so deutliche Erklärung von Obama – wie es scheint – nicht erwartet hat, so gibt es dafür einen Grund: Er hat – wie leider viele Strategie-Experten – eine Seite der Diskussion über Kernwaffen einfach nicht zur Kenntnis genommen, die seit langem auch in den USA geführt wurde: Die Entwicklung der Kernwaffen war immer von der Frage begleitet, ob Waffen dieser Art wirklich eingesetzt werden dürfen. Diese Frage wurde zunächst von Wissenschaftlern aufgeworfen, die an der Entwicklung dieser Waffen beteiligt waren. Die Bedenken standen auch hinter dem Angebot der USA von 1946, die Kernwaffen zu internationalisieren. Sie traten in den Hintergrund, nachdem die Sowjetunion ebenfalls Atomwaffen erworben hatte. Sie tauchten wieder auf, als man vor der Entscheidung stand, Wasserstoffbomben mit einer tausendfach stärkeren Wirkung zu bauen. Sie führten den sowjetischen Wissenschaftler Sacharow auf den Weg zum Dissidenten. Die Bedenken wurden aber auch von einem amerikanischen Präsidenten geteilt, von dem man dies nicht erwartet hätte: Reagan glaubte nicht an die Logik der Abschreckung. Er ließ sich allerdings von seinen Experten zu einer technischen Alternative verleiten: Eine wirksame Raketenabwehr sollte die Kernwaffen obsolet machen. Das erwies sich freilich als Illusion: Es gibt auch heute, ein Vierteljahrhundert später, noch keine zuverlässigen Abwehrsysteme. Das Problem ist technisch nicht lösbar.

Kissinger, Shultz, Perry und Nunn waren nicht die Ersten, die aus ihren Erfahrungen den Schluß zogen, man könne die Risiken der nuklearen Abschreckung nicht für immer hinnehmen. Rühle scheint nur die Experten zu kennen, die – wie er selbst – meinen, das nukleare Gleichgewicht im Kalten Krieg habe für „nahezu perfekte Sicherheit“ gesorgt. Hat er sich nie mit den Krisen beschäftigt, die an den Rand eines Nuklearkrieges führten? Hat er die Fälle nicht zur Kenntnis genommen, in denen eine falsche Interpretation von Daten oder ein Versagen von Sicherungssystemen gerade noch rechtzeitig vor dem Einsatz von Kernwaffen korrigiert werden konnten? Hat er die Studien über die Wirkung von Nuklearkriegen gelesen? In seinem Buch schweigt er dazu.

Rühle schildert ausführlich die Gefahren der Verbreitung von Kernwaffen. Niemand wird sie bestreiten. Aber hat er die Motive für den Versuch mehrerer Staaten, Kernwaffen zu erwerben, richtig verstanden? Wie kann er einerseits die Kernwaffen als „ultimativen Ausdruck staatlicher Souveränität“ bezeichnen und die nukleare Abschreckung als Weg zu einer fast perfekten Sicherheit bezeichnen und andererseits den „Habenichtsen“ den Zugang zu diesen Waffen verwehren wollen? Er irrt, wenn er meint, die Abrüstungsklausel im Nichtverbreitungsvertrag sei erst in jüngster Zeit entdeckt und von einigen Staaten als Vorwand zur Rechtfertigung ihrer eigenen Rüstungsanstrengungen benützt worden. Ohne diese Klausel wäre der Vertrag nicht geschlossen worden. Er wäre 1995 auch nicht auf unbegrenzte Zeit verlängert worden, wenn damals nicht die Hoffnung bestanden hätte, dass USA und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Abrüstung wirklich ernst machen würden. Nur diese Erwartung machte es für viele Habenichtse erträglich, die Benachteiligung gegenüber den Nuklearstaaten weiter hinzunehmen.

Die Kluft zwischen den beiden Gruppen wird zugeschüttet werden müssen. Dafür gibt es zwei Wege: Entweder immer mehr Habenichtse erwerben Kernwaffen, oder die Kernwaffenstaaten zeigen sich bereit, ihre Privilegien allmählich abzubauen. Diesen Weg will Obama gehen. Je mehr Unterstützung er dafür bekommt, umso größer ist die Chance, auf diesem Weg voranzukommen.

Rühle schildert die Schwierigkeiten dieses Weges und sie sind tatsächlich groß. Sie könnten sogar größer werden, je mehr man sich dem Ziel nähert. Rühle bezeichnet das Konzept der „nuklearen Totalabrüstung“ als „zutiefst tautologisch“, weil es nur unter Bedingungen erreichbar sei, die einen Nuklearwaffenbesitz ohnehin überflüssig machen. Was ist daran tautologisch? Das Ziel ist eines, die Wege dorthin konvergieren. In der Tat wird der fortschreitende Abbau von Kernwaffen immer größere Transparenz, also immer wirksamere Überwachung erfordern Aber diese wird eher akzeptabel, wenn sich ihr auch die Kernwaffenstaaten unterwerfen. Fordern nicht auch die technische Entwicklung und die wirtschaftliche Interdependenz immer größere Transparenz? Sie kann gleichzeitig die Vorbereitung von Kriegen erschweren. Sie wird auch die Möglichkeiten steigern, durch internationale Zusammenarbeit terroristische Organisationen zu überwachen und ihre Aktionen zu verhindern.

Rühle hat Recht: Wir brauchen eine tabufreie Sicherheitsdebatte. Aber sie muß so breit wie möglich geführt werden. In einer Demokratie kann sie nicht – wie er meint - eine Domäne der Elite bleiben.

Schließlich fragt sich der Leser von Rühles Schrift: Bleibt er bei seiner Forderung eines Schulterschlusses mit den USA? Dann wird er nach der Prager Rede Obamas seinen Standpunkt ändern müssen.

Samstag, 14. Februar 2009

Einstein und die Atombombe

Einsteins Brief an Präsident Roosevelt vom 2. August 1939 und sein Engagement gegen den Krieg

Vor siebzig Jahren, am 2. August 1939, unterschrieb Albert Einstein - in Ulm geboren, aber damals bereits in den USA heimisch geworden - einen Brief an Präsident Roosevelt und bewog ihn damit, erste Schritte zur Entwicklung einer Atombombe anzuordnen. Im Januar 2007 traten vier prominente Amerikaner (George P. Shultz, William P. Perry, Henry A. Kissinger – ebenfalls ein Emigrant aus Deutschland – und Sam Nunn), mit dem Vorschlag hervor, alle Kernwaffen abzuschaffen. Darüber wird jetzt diskutiert: Grund genug, sich daran zu erinnern, wie die Geschichte der Kernwaffen vor siebzig Jahren begann.

Einstein hatte in den ersten Jahren des 20. Jh. mit einigen Arbeiten zur theoretischen Physik, die er neben seiner beruflichen Tätigkeit am Schweizer Patentamt verfasste, die Physik völlig umgewälzt – eine Leistung, für die er 1921 den Nobel-Preis erhielt. 1914 wurde er an die Preußische Akademie berufen und später zum Leiter des Physikalischen Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ernannt. Das bescheidene Haus in Caputh an den Havel-Seen, das er damals baute, und sein kleines Segelboot boten ihm Ruhe und Erholung. Was ihn befähigte hatte, über die herkömmliche Physik hinauszugehen und ganz neue Wege zu beschreiten, war eine Eigenschaft, die er selbst als Neugier bezeichnete, und seine ständige Bereitschaft, auch das in Frage zu stellen, was den Meisten als gesichert und unbezweifelbar galt. Ein Klima, das freies Denken erlaubte, war ihm so wichtig wie die Luft zum Atmen. Dieses Klima geriet in Deutschland in den zwanziger Jahren in Gefahr. Freiheit und Toleranz drohten zwischen den extremen politischen Gruppen zerrieben zu werden. Das häßliche Gesicht des Antisemitismus zeigte sich immer öfter. Obwohl Einstein in Berlin und an seinem Institut persönliche Freunde hatte – Max Planck gehörte zu ihnen – entschloss er sich während eines Aufenthalts in Kalifornien, nicht nach Deutschland zurückzukehren und eine Position am Institute for Advanced Studies in Princeton zu übernehmen. Durch Vorträge und Interviews wurde er in den USA schnell berühmt und populär. Er wurde mit seiner weißen Mähne, den lebhaften braunen Augen und seinem unkonventionellen Auftreten zum Idealbild eines Gelehrten.

Amerika war auch für viele andere Wissenschaftler zu einer Zuflucht geworden. Zu ihnen gehörte der Ungar Leo Szilard, der in Berlin studiert hatte und bei Max von Laue promoviert worden war. Dort hatte er Einstein kennen gelernt. Er hatte aber auch einen Eindruck von der nationalsozialistischen Bewegung bekommen, die 1933 an die Macht kam. Szilard suchte zunächst Zuflucht in England. Er erzählte später, wie ihm während eines Spaziergangs in London beim Überqueren einer Straße die theoretische Möglichkeit einer Kettenreaktion beim Zerfall eines Atomkerns klar geworden sei. Von England aus beobachtete er, wie Hitler mit der Tschechoslowakei verfuhr. Ohne Rücksicht auf das Münchner Abkommen von 1938, das in England bei Vielen die Hoffnung auf Frieden gestärkt hatte, ließ der deutsche Diktator im März 1939 Truppen einmarschieren und brachte das Land unter seine Herrschaft. Damit war offensichtlich, dass Hitler zu weiteren Kriegen entschlossen war. Szilard zog nun in die USA. Als er Anfang 1939 erfuhr, dass Otto Hahn in Berlin eine Kernspaltung gelungen war, begriff er sofort, dass man nun eine Kettenreaktion auslösen und die dabei frei werdende Energie für den Bau einer Bombe von unerhörter Sprengkraft nutzen konnte. Er befürchtete, Hitler werde sich die Chance, eine neue Waffe dieser Art in die Hand zu bekommen, nicht entgehen lassen. Man musste die USA warnen. Aber wie? Es schien ihm am besten, sich an Präsident Roosevelt selbst zu wenden, damit die Warnung nicht irgendwo in der Bürokratie stecken blieb. Nur einer bekannten und angesehenen Person würde es aber gelingen, an den Präsidenten heranzukommen. Unter denen, die er kannte, hielt Szilard nur Einstein für geeignet. Zusammen mit einem anderen ungarische Emigranten, Edward Teller, der später als „Vater der Wasserstoffbombe“ bekannt wurde, suchte er Albert Einstein in seinem Ferienhaus in Peconic auf Long Island auf. Es gelang, ihn zur Mitwirkung zu bewegen. Später – vor allem nach dem ersten Einsatz der Atombombe - bedauerte Einstein sein direktes Eingreifen in die amerikanische Politik. In seiner Erinnerung beschränkte sich seine Mitwirkung bei dieser Initiative auf die Unterschrift unter einem von Szilard entworfenen Brief. Szilard stellt die Sache etwas anders dar: Einstein habe zunächst einen Text auf deutsch diktiert. Diesen habe Szilard zu zwei Briefentwürfen – natürlich auf englisch – umgearbeitet. Einstein habe sich für den längeren entschieden. Szilard selbst habe noch ein Memorandum mit den wissenschaftlichen Grundlagen hinzugefügt.

Wie immer sich das im Einzelnen abgespielt hat: Wichtig ist vor allem der Inhalt des Briefes, den Einstein schließlich am 2. August 1939 unterzeichnete. Dort wird zunächst ausgeführt, dass in einer großen Masse Uran eine Kettenreaktion erzeugt werden könne. Es sei möglich, sie für den Bau von Bomben extremer Sprengkraft nutzbar zu machen. Eine einzige Bombe dieser Art, per Schiff in einen Hafen transportiert und dort zur Explosion gebracht, könne den Hafen und seine Umgebung zerstören. (Dass man eine kleinere Bombe bauen und von einem Flugzeug aus abwerfen könnte, hielten Einstein und Szilard damals anscheinend noch nicht für möglich.) Ein ständiger Kontakt zwischen der amerikanischen Regierung und den Physikern, die in den USA die Kettenreaktion erforschten, sei wünschenswert. Diese könnten, während sie ihre eigenen Forschungsarbeiten vorantrieben, Regierungsstellen über die weitere Entwicklung unterrichten und Vorschläge machen. Als ein Indiz für die deutschen Pläne wurde in dem Brief erwähnt: Ein Sohn des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, arbeite im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin an der Uranforschung mit. Einstein und Szilard nahmen offenbar an, Vater und Sohn würden eng zusammenarbeiten, um Deutschland zum Sieg in dem kommenden Krieg zu verhelfen. Sie hatten sich – wie sich später zeigte – in ihrer Einschätzung von Ernst und Carl Friedrich von Weizsäcker geirrt. Ernst von Weizsäcker hatte zwar unter der NS-Regierung hohe Ämter erreicht, aber er versuchte, den Krieg, den er ablehnte, durch geheime Kontakte, vor allem mit der britischen Diplomatie, zu verhindern. Er hielt immer zu den Kreisen des aktiven Widerstands Verbindung. Auf Carl Friedrichs Aktivitäten als Kernphysiker und Mitarbeiter Heisenbergs wird später zurückzukommen sein.

Wie sollte man nun mit dem von Einstein unterschriebenen Brief verfahren? Um sicher zu sein, dass er den Präsidenten selbst erreichte, sollte er ihm persönlich übergeben werden. Szilard kannte einen Geschäftsmann, der Zugang zum Präsidenten hatte, Dr. Sachs. Aber Roosevelts Kalender war so voll, dass er Sachs zunächst nicht empfangen konnte. Am 1. September hatte Hitler den Angriff auf Polen begonnen, das kurz vorher mit Großbritannien einen Bündnisvertrag abgeschlossen hatte. Deutsche Truppen überschritten die Grenze, die Hauptstadt Warschau wurde bombardiert. Die USA konnten nicht untätig bleiben: Noch am gleichen Tag rief Präsident Roosevelt dazu auf, die Bombardierung der Zivilbevölkerung einzustellen. Nachdem Großbritannien und Frankreich am 9. September Deutschland den Krieg erklärt hatten, arbeitete Roosevelt mit dem Kongress an einer Änderung des „Neutrality Act“, um den britischen Verbündeten besser unterstützen zu können. Erst am 11. Oktober erhielt Sachs einen Termin beim Präsidenten. Sachs trug den wesentlichen Inhalt des Briefes vor, den er anschließend übergab. Roosevelt verstand sofort, worum es ging: „Was Sie erreichen wollen, ist, dass uns die Nazis nicht in die Luft jagen“, bemerkte er und erteilte seinen Mitarbeitern die Weisung, die Sache aufzugreifen. Ein ad-hoc-Ausschuß wurde eingesetzt. Aber ein greifbares Ergebnis zeigte sich zunächst nicht. Am 7. März schrieb Einstein auf Drängen Szilards einen zweiten Brief. Am 6. Dezember begann schließlich das Manhattan Project seine Arbeit, die zum Bau der ersten Atombombe führte.

An diesem Projekt war Einstein nicht direkt beteiligt und es war ihm immer peinlich, wenn man ihn – was gelegentlich geschah – zu den Vätern der Atombombe rechnete. Er hatte immer zum Pazifismus geneigt. Nur die Furcht, Hitler könnte als erster die Verfügung über eine Atombombe erlangen und versuchen, mit ihr eine rassistische Weltherrschaft zu errichten, hatte ihn dazu getrieben, ein amerikanisches Programm zur Entwicklung dieser Waffe anzuregen. Aber als sich zeigte, dass dieses Programm erfolgreich sein würde, fragte er sich, ob die Politiker die Gefährlichkeit dieser Waffe richtig erkannten. Er wandte sich Ende 1944 an Niels Bohr, der inzwischen ebenfalls in die USA gekommen war. Er schrieb ihm, Wissenschaftler sollten die politischen Führer für eine „Internationalisierung der militärischen Macht“ gewinnen. Bohr hatte sich bereits gegenüber Churchill und Roosevelt für diese Idee eingesetzt, aber er hatte die Politiker nicht überzeugen können. Sie konzentrierten alle ihre Energien darauf, den Krieg zu gewinnen – und möglichst bald. Bohrs Vorstoß betrachteten sie als eine Ablenkung von diesem Ziel. Bohr selbst machte sich damit verdächtig. Gerade das wollte er Einstein ersparen. Er suchte ihn in Princeton auf und mahnte ihn zur Vorsicht. Einstein schrieb daraufhin am 25. März 1945 einen sehr behutsamen letzten Brief an Roosevelt. Er wurde nach dessen Tod auf seinem Schreibtisch gefunden. Man gab ihn seinem Nachfolger, Harry Truman, der ihn an seinen Außenminister weiterleitete.

Die Idee, jedenfalls die Kernwaffen zu internationalisieren, wurde als amerikanischer Vorschlag durch Trumans Beauftragten Bernard Baruch im Juni 1946 in die VN eingeführt. Inzwischen war aber das Verhältnis zur Sowjetunion, dem früheren Verbündeten, durch gegenseitiges Misstrauen überlagert. Eine Einigung über den Baruch-Plan war nicht zu erreichen.

Was war inzwischen in Deutschland geschehen, um die Kernspaltung militärisch zu nutzen? Die Erforschung der Atomkerne, ihrer Spaltung und der unter bestimmten Voraussetzungen sich daraus ergebenden Kettenreaktion wurde, nach dem erfolgreichen Experiment von Otto Hahn, vor allem am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin unter der Leitung von Werner Heisenberg weitergetrieben. Carl Friedrich von Weizsäcker arbeitete daran mit. Die beiden Forscher wussten, dass eine militärische Nutzung möglich war. Aber sie wünschten sie nicht, denn sie hatten keine Illusionen über den Charakter des Regimes, unter dem sie lebten. Gleichwohl versuchten sie die Forschungsarbeiten in der Hand zu behalten, um zu verhindern, dass willfährigere Wissenschaftler tatsächlich auf den Bau einer Bombe hinarbeiten könnten. Weizsäcker hat diese Haltung später nicht ohne Selbstkritik als „widerstrebenden Konformismus“ bezeichnet.

Der Rüstungsminister Speer ließ sich von Heisenberg im Juni 1942 den Stand der Forschungen vortragen. Heisenberg legte dar, dass ein auf militärische Ziele gerichtetes Programm ungeheure Mittel erfordern und Jahre dauern würde. Hinderlich sei vor allem, dass Deutschland nicht über Zyklotrone verfüge und für deren Bau keine Erfahrungen habe. Speer entschied daraufhin, das Forschungsprogramm nur in dem bisherigen Rahmen weiterzuführen. Das bedeutete, dass man über den Bau eines Reaktors zur zivilen Nutzung der Kernenergie nicht hinausgehen konnte. Heisenberg und Weizsäcker waren erleichtert, denn damit blieb ihnen die schwierige Entscheidung erspart, ob sie weiter an dem Programm mitarbeiten sollten.

Heisenberg wusste natürlich, dass man besonders in London und Washington mit großer Sorge auf das deutsche Forschungsprogramm blickte. Er wollte – noch vor der Entscheidung Speers – ein Signal der Entwarnung geben. Er nutzte dafür eine Reise nach Kopenhagen und ein Gespräch mit seinem Lehrer und Freund Niels Bohr. Er erreichte aber sein Ziel nicht, sondern verstärkte sogar das Misstrauen, das sich bei Bohr schon geformt hatte. Warum ist dieses Gespräch so völlig missglückt? Heisenberg äußerte sich dazu in einem Artikel, der 1946 in der Zeitschrift „Naturwissenschaften“ erschien, und in einem Brief an Robert Jungk, den dieser in seinem Buch „Heller als tausend Sonnen“ zitiert. Offenbar meinte Heisenberg, selbst mit Bohr nicht ganz offen sprechen zu können. Er befürchtete, seine Äußerungen könnten bekannt werden und zu einer Anklage wegen Verrats führen. Vielleicht hat Heisenberg seine Vorsicht zu weit getrieben. Er selbst fühlte, dass ihn Bohr missverstand, und kehrte deprimiert nach Berlin zurück. Tatsächlich hatte Bohr den Eindruck gewonnen, dass in Deutschland auf eine Atombombe hingearbeitet werde. Als er später nach England und dann in die USA emigrierte, bestärkte er die Behörden in London und Washington in ihrem Bestreben, den Deutschen beim Bau der Atombombe zuvorzukommen.

Einstein wandte sich, unter dem Eindruck der Bomben auf Hiroschima und Nagasaki, ab 1945 der Idee zu, nur ein weltweites föderales System mit supranationalen Institutionen könne weitere Kriege verhindern. Dieses Ziel verband ihn weiterhin mit den Pazifisten. Er glaubte aber nicht mehr, dass man es durch einseitigen Gewaltverzicht erreichen könne. Als Physiker hatte er immer versucht, alle Erscheinungen auf möglichst klare und einfache Gesetze zurückzuführen und er blieb bis zum Ende seines Lebens auf der Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie. Für das Verhältnis der Staaten zueinander suchte er eine Lösung durch das Recht: Eine weltweite föderale Verfassung, deren oberste Organe Streitigkeiten schlichten sollten. Wie in der Physik ließ er sich durch eingefahrene Denkmuster nicht aufhalten: Wenn die Souveränität der Staaten ein Hindernis für ein wirksames System zur Verhinderung von Kriegen war, so musste man sie überwinden.

Seine indirekte Mitwirkung am Bau der Atombombe belastete ihn weiter. Bei einem vom Nobel-Preis-Komitee gegebenen Bankett in Manhattan im Winter 1945 erinnerte er an Alfred Nobels Motiv für die Stiftung des Preises: Sie sei eine Sühne für die Erfindung immer wirksamerer Sprengstoffe. Jetzt seien die Physiker, die an der Schaffung der gefährlichsten Waffe aller Zeiten teilgenommen hätten, durch ein ähnliches Gefühl der Verantwortung, um nicht zu sagen Schuld, belastet. Im Mai 1946 ließ sich Einstein zu Vorsitzenden des „Emergency Committee of Atomic Scientists“ wählen, das sich für nukleare Rüstungskontrolle einsetzte. In einem Telegramm an potentielle Spender schrieb er: „Die entfesselte Kraft des Atoms hat Alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe zu, für die es bisher kein Beispiel gibt.“

In seinem Todesjahr beschloss der bereits kranke und geschwächte Einstein, gemeinsam mit Bertrand Russell, die Wissenschaftler sollten noch einmal vor den Gefahren eines Nuklearkriegs warnen, die durch die Entwicklung von Wasserstoff-Bomben in den USA und dann auch in der Sowjetunion dramatisch gewachsen waren. In einer Erklärung, die Einstein, Russell und neun weitere prominente Wissenschaftler unterschrieben und die am 9. Juli 1955 in London veröffentlicht wurde, beschrieben sie die Wirkung der neuen Bomben: Sie könnten nicht nur die größten Städte wie New York, London und Moskau auf einen Schlag vernichten. In größerer Zahl eingesetzt, würden sie durch die von ihnen ausgelösten Strahlungen eine riesige Zahl von Menschen schädigen und könnten den Bestand der Menschheit gefährden. Die Unterzeichner unterstützten Vereinbarungen zur Verminderung der Spannungen zwischen Ost und West und ein Verbot der neuen Waffen. Aber eine wirkliche Lösung könne nur durch die Abschaffung des Krieges gefunden werden. Sie schlugen Treffen von Wissenschaftlern zur Einschätzung der Gefahren vor, die sich aus den neuen Waffen ergeben. Daraus entwickelten sich die Pugwash-Konferenzen, die der Physiker Joseph Rotblat organisierte und in denen sich seitdem Wissenschaftler aus Ost und West trafen und berieten.

Dem Ziel einer Abschaffung des Krieges ist man seitdem nicht näher gekommen. Aber es ist Einstein und seinen Kollegen gelungen, den Politikern klar zu machen, welche schrecklichen Folgen ein mit Kernwaffen geführter Krieg hätte. Ein solcher Krieg konnte bisher in der Tat vermieden werden. In mehreren Krisen, vor allem in der Kuba-Krise, zeigte sich, dass beide Seiten sich darum bemühten, den drohenden Krieg abzuwenden. Vereinbarungen wurden geschlossen, um die weitere Verbreitung von Kernwaffen zu vermeiden und ihre Zahl zu vermindern. Heute ist das weitere Schicksal dieser Vereinbarungen ungewiss.

Ob das Ziel der eingangs erwähnten vier hoch angesehenen Amerikaner, eine völligen Abschaffung der Kernwaffen, erreicht werden kann, kann niemand mit Sicherheit sagen. Aber man kann jetzt Schritte tun, die uns diesem Ziel näher bringen und gleichzeitig die Gefahr von Kriegen vermindern. Dies gehört zu den dringendsten Aufgaben der nächsten Jahre.

Einsteins Haltung lehrt uns: Man sollte sich nicht durch eingefahrene Denkmuster daran hindern lassen, das Notwendige und Vernünftige zu tun.

Montag, 26. Januar 2009

Völkerrecht und Zukunft

Zusammenfassung

Die Langfassung dieses Artikels ist unter dem Titel "Völkerrecht und Zukunft" in der Zeitschrift für Politik, Heft 2, 2009 S. 162 erschienen.

1. Der Planet Erde ist, nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft, ein sich selbst regulierendes System, das die Bedingungen für die Entwicklung des Lebens herausgebildet und bewahrt hat. Auch der Mensch ist von diesen Bedingungen abhängig. Er hat aber mit der Industrialisierung begonnen, das System zu stören und könnte es, wenn er sein Verhalten nicht ändert, zerstören. Daraus ergeben sich ein neues Verständnis des Menschen in seiner Umwelt und ein neuer ethischer Imperativ: Handle so, dass die Bedingungen für menschliches Leben erhalten bleibe. Unter dem Einfluss dieser neuen Ethik, die man mit Hans Jonas als Zukunftsethik bezeichnen könnte, entwickelt sich bereits eine neue Art von Recht, das nicht die Beziehungen zwischen Staaten regelt, sondern die gemeinsame Bewirtschaftung des Planeten zur Bewahrung der Lebensbedingungen.

2. Die neue Sicht der Erde zwingt auch zu einem neuen Verständnis der globalen Ordnung: Das System souveräner Staaten und das klassische Völkerrecht reichen nicht aus, um das Erdsystem zu bewahren, das bisher die Lebensbedingungen des Menschen gesichert hat. Auf der Stockholmer Konferenz über die Umwelt des Menschen 1972 wurde erstmals anerkannt, dass die natürlichen Ressourcen der Erde zum Wohl der gegenwärtigen und künftigen Generationen bewahrt werden müssen.

3. Die ersten Schritte zur Entwicklung eines neuen Rechts wurden zum Schutz der Atmosphäre unternommen: Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (1985) und Protokoll von Montreal (1987); Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen (1992) und Protokoll von Kyoto (1997). Aus dem ethischen Imperativ der Erhaltung echten menschlichen Lebens folgt die Pflicht, Regeln für die gemeinsame Bewirtschaftung der Erde zu entwickeln. Daraus ergibt sich eine Einschränkung der staatlichen Souveränität. Die dringendste Aufgabe, vor der die Staatengemeinschaft steht, ist eine neue Vereinbarung zum Schutz des Klimas, die weit über das Protokoll von Kyoto hinausgehen muß, wenn eine weiter Erwärmung der Erde mit ihren gefährlichen Folgen für die Lebensbedingungen des Menschen verhindert werden soll. Wenn dies gelingt, wird es ein großer Schritt in der Entwicklung des neuen Rechts, des Überlebensrechts, sein.

4. Weitere Aufgaben für diese neue Art von Recht sind z. B. Regelungen für die gemeinsame Bewirtschaftung des Wassers und für die Entwicklung der Bevölkerung. Auch Regeln zur Verhinderung eines mit Kernwaffen geführten Krieges, der die Lebensbedingungen des Menschen zerstören könnte, gehören dazu.

Angesichts dieser neuen Aufgaben steht das Völkerrecht nicht vor seinem Ende, sondern am Beginn einer neuen Epoche.

Sonntag, 11. Januar 2009

Überlebensrecht - eine Einführung

Eine ausführliche Fassung dieses Artikels ist erschienen in: Scheidewege - Jahresschrift für skeptisches Denken. Nr. 39, Jahrgang 2009/2010.

1. Die Verletzlichkeit unseres Lebensraumes

Der Lebensraum des Menschen, die Erde, wird heute als ein sich selbst steuerndes System verstanden, das aus vier Komponenten besteht: Festland, Wasser, Atmosphäre und Biomasse (die Gesamtheit aller Lebewesen). Das Erdsystem, das sich im Verlauf der Erdgeschichte entwickelt hat, wird durch ein Zusammenspiel vieler Faktoren, durch die Kreisläufe von Wasser und Kohlenstoff und durch Rückkoppelungsprozesse in einem prekären Gleichgewicht gehalten. Von außen wirkt die Sonnenstrahlung auf das Erdsystem ein, ohne die sich kein Leben hätte entwickeln können. Innerhalb dieses Systems haben sich bisher Änderungen so langsam vollzogen, dass sich die Lebewesen anpassen konnten. Auch die Veränderungen durch das Einwirken des Menschen geschahen bisher allmählich und oft unbemerkt.

Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. wurde erkannt, wie intensiv die Einwirkung des Menschen auf das komplexe und empfindliche System geworden ist: das Gleichgewicht wird gestört. Daraus entstehen Gefahren neuer Art. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür. Industrielle Produktions- und Transportverfahren mit hohem Energieverbrauch, entsprechend dem in den wohlhabend gewordenen Ländern entwickelten Lebensstil, aber auch die wachsende Tierhaltung zur Befriedigung der wachsenden Nachfrage nach Fleisch haben den Ausstoß von Treibhausgasen rasch erhöht. CO2 und Methan sind die wichtigsten. Seit dem Jahr 1700 hat der CO2-Gehalt in der Atmosphäre um ein Viertel zugenommen und er nimmt mit wachsender Geschwindigkeit weiter zu. Dies ist die Hauptursache für die ebenfalls beobachtete Erderwärmung. Schwankungen der Erdtemperatur hat es natürlich auch vorher gegeben, aber wir kennen seit einer Million Jahren keinen Temperaturanstieg in dem Tempo, in dem er sich jetzt vollzieht. Wir haben weder genügend Zeit, uns daran anzupassen, noch hat eine wachsende Erdbevölkerung von jetzt schon fast sieben Milliarden Menschen die Möglichkeit, das Problem durch Umsiedlung in Gebiete zu lösen, die näher an den Polen oder in größeren Höhen über dem Meeresspiegel liegen. Vor allem aber ist es schwierig, sich den sekundären Folgen der Erderwärmung zu entziehen. Schon bei einem Anstieg des Meeresspiegels um wenige Meter würden große Gebiete an den Küsten, darunter riesige Städte, unbewohnbar; andere würden einer erhöhten Gefahr häufiger Überschwemmungen ausgesetzt. Als tertiäre Folgen wären riesige Flüchtlingsströme und Konflikte um die knapper werdenden bewohnbaren Gebiete zu erwarten. Bei unbegrenzt weiter wachsendem Anteil der Treibhausgase an der Atmosphäre und fortgesetzter Erwärmung stünden schließlich die Überlebensbedingungen für viele Tierarten und letztlich auch für den Menschen auf dem Spiel.

Es bleibt nur ein Ausweg: Die Änderung des menschlichen Verhaltens, die Anpassung an das bestehende Erdsystem, die Wiederherstellung und Bewahrung seines Gleichgewichts. Tim Flannery schrieb in einer Besprechung des Buches „The Superorganism“ von Hölldobler und Wilson: „We have to hope that we will find ourselves living sustainably in a global superorganism whose own self-created intelligence has been bent to the management and the maintenance of its life systems for the greater good of life as a whole.”*

Die Haltung des Menschen in seiner Umwelt ist zunächst ein Thema der Ethik. Es ist aber auch eine neue Aufgabe für das internationale Recht: Die Gefahren, um deren Vermeidung es geht, werden in der Regel durch das Verhalten einer nicht genau zu bestimmenden Vielzahl von Menschen verursacht. Wer ist für den Anstieg des CO2 -Anteils in der Atmosphäre mit seinen Folgen für das Klima verantwortlich? Jeder trägt dazu bei, der Energie verbraucht, die zum größten Teil immer noch durch die Verbrennung kohlenstoffhaltiger Stoffe erzeugt wird, jeder, der am motorisierten Verkehr teilnimmt und jeder, der einen großen Anteil seines Nahrungsbedarfs mit Fleisch deckt.

2. Eine neue Art von Recht

Nur durch gemeinsame Regeln ist es möglich, die Störung oder Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts zu verhindern und damit die Bedingungen zu schützen, die als Voraussetzung für das Überleben auch des Menschen erkannt sind. Die Regelungen sind nur wirksam, wenn sie global gelten und wenn sie rechtlich bindenden Charakter für alle Staaten haben. Schon wenn sich ein großer Staat ihnen nicht unterwirft, ist ihre Wirksamkeit eingeschränkt. Wir stoßen hier auf die von Hardin** beschriebene „Tragedy of the Commons“, die Tragik der Allmende. Hardin zeigt sie am Beispiel eines Sees, der einer größeren Anzahl von Fischern zur Verfügung steht, dass der Fischbestand in kurzer Zeit erschöpft sein wird, weil alle Fischer möglichst viele Fische fangen wollen. Nur wenn die Fischer sich auf eine Beschränkung des Fischfangs einigen, kann der Bestand erhalten werden. Dies ist das langfristige gemeinsame Interesse.

Daraus ergibt sich zunächst die Pflicht der Regierungen, an der Ausarbeitung von Regeln mitzuwirken, durch welche die Nutzung globaler öffentlicher Güter – wie der Atmosphäre – so geregelt wird, dass ihr Bestand gesichert ist. Die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Umwelt ist erstmals in der Erklärung der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm (1972) anerkannt, später durch die Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung (1993) und die Millenium-Erklärung der Staats- und Regierungschefs (2000) bekräftigt worden. Aber es wurde bisher nicht eindeutig gesagt, dass die Souveränität der Staaten an dieser gemeinsamen Verantwortung ihre Grenze finden muss. Wenn dies nicht erkannt und anerkannt wird, besteht die Gefahr, dass die lebenswichtigen globalen öffentlichen Güter, wie die Atmosphäre, so lange ausgebeutet werden, bis sie erschöpft oder zerstört sind.

Das bisherige Verständnis von der Souveränität eines Staates ging von der Annahme aus, dass Alles, was auf seinem Gebiet geschieht, ausschließlich seiner Herrschaft unterliegt und dass von seinem Territorium aus öffentliche Güter – wie die Atmosphäre – ohne Einschränkungen genutzt werden können. Dies ist eine Fiktion, die mit dem neuen Verständnis der Erde als eines ganzen sich selbst steuernden Systems offenbar nicht vereinbar ist. Die Staaten müssen ihr Verhalten an dieses System anpassen. Die staatliche Souveränität muss gegenüber dem höheren Gut der Erhaltung der Lebensbedingungen für die ganze Menschheit zurücktreten. Daraus folgt, dass sich die Regierungen nicht auf die Souveränität ihrer Staaten berufen dürfen, um sich den Regeln zum Schutz globaler öffentlicher Güter zu entziehen.

Hier zeigt sich eine Parallelität zu den Menschenrechten des Einzelnen: Die Autorität der Staaten nach innen findet – wie jetzt allgemein anerkannt wird – ihre Grenze an einem Kernbestand von Menschenrechten. In gleicher Weise müssen Regeln, die das Überleben der Menschheit schützen, die äußere Souveränität der Staaten einschränken. Diese Regeln werden hier als „Überlebensrecht“ bezeichnet. Menschenrechte und Überlebensrecht stehen in engem Zusammenhang: Der Schutz des einzelnen Menschen und die Wahrung der Lebensbedingungen für die Menschheit als ganze sind die beiden höchsten für alle Staaten geltenden Rechtsgüter.

3. Beispiele für das Überlebensrecht

Es war die Erdatmosphäre, die als besonders empfindlicher und gefährdeter Teil der globalen Umwelt zuerst durch völkerrechtliche Vereinbarungen geschützt wurde. Das erste war das Übereinkommen vom 13.10.1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigungen. In Protokollen von 1988, 1991 und 1994 wurden Maßnahmen gegen Emissionen von Stickoxiden, flüchtige organische Verbindungen und Schwefelverbindungen vereinbart.

Mit dem Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (22.3.1985) und dem Montrealer Protokoll (16.9.1987) wurden neue Wege beschritten: Es genügte als Anlass zum Handeln, dass menschliche Tätigkeit die Ozonschicht wahrscheinlich verändere und damit die menschliche Gesundheit wahrscheinlich gefährde. Das „Vorsorgeprinzip“ wurde damit zum ersten Mal praktisch angewendet. Man einigte sich auch auf ein konkretes Ergebnis der vereinbarten Maßnahmen: Die Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, sollen vollständig beseitigt werden. Wiener Übereinkommen und Montrealer Protokoll legen nicht nur ein klares Ziel fest, sondern auch die konkreten Schritte, durch die dieses Ziel erreicht werden soll. Dabei wird die Hauptlast den Industriestaaten auferlegt, während den Entwicklungsländern längere Fristen für die Beseitigung der gefährlichen Stoffe eingeräumt werden.
Weitere Schritte wurden mit dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 9.5.1992 getan, ausgehend von „der Sorge der Menschheit angesichts der Änderungen des Weltklimas und ihrer nachhaltigen Auswirkungen“.

Wichtig ist die Formulierung des Zieles in Art 2 des Rahmenübereinkommens: Die Stabilisierung der Treibhausgase in der Atmosphäre auf einem Niveau, das eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems vermeidet. Wo dieses Niveau liegt, wurde in dem Rahmenübereinkommen noch nicht festgelegt.

Zunächst ging es darum, den Rahmen mit konkretem Inhalt, also mit Verpflichtungen zu ersten Reduzierungs-Schritten auszufüllen. Das erwies sich als sehr schwierig: Es dauerte fünf Jahre, bis das Protokoll von Kyoto unterschriftsreif war, und noch mehr Jahre, bis es von einer genügenden Anzahl von Staaten ratifiziert wurde, so dass es schließlich 2005 in Kraft treten konnte. Dabei blieb die Reduzierungspflicht auf Industriestaaten beschränkt – und sie ist keineswegs einschneidend. Die Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase sollen bis 2012 um mindestens 5% unter das Niveau von 1990 gesenkt werden. Wie die Reduzierungspflichten verteilt werden sollten, war die wohl schwierigste und umstrittenste Frage. Einige Grundsätze dafür sind im Art. 3 des Rahmenübereinkommens festgelegt, aber über ihre Anwendung wurde zäh verhandelt. Die damals 15 Mitgliedsstaaten der EU versuchten, ein Beispiel zu geben. Sie übernahmen 8% der Reduzierungen, die USA 7%, Japan 6%, während Russland seine Emissionen nicht vermindern muss, aber auch nicht über das Niveau von 1990 hinaus ansteigen lassen darf. Der damalige amerikanische Vizepräsident Gore hatte das Protokoll unterschrieben. Die neue Administration wie auch die Mehrheit im Kongress lehnten die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls entschieden ab. Jedoch hat sich seitdem die Stimmung in den USA unter dem Einfluss von Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen gewandelt.

Nun kommt es darauf an, das Kyoto-Protokoll nicht nur durchzuführen, sondern auch durch neue Regeln zu ersetzen, die bis 2012 in Kraft treten und zu einer viel schnelleren und tieferen Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen führen müssen.

4. Weitere Felder des Überlebensrechts

Solange es noch Nuklearwaffen gibt, deren Zahl jetzt auf 25 000 geschätzt wird, besteht auch die – wenn auch nicht akute - Gefahr ihres Einsatzes, sei es durch menschliches Versagen, sei es durch Terroristen, in deren Hände solche Waffen gelangt sind, sei es bei einem Versagen der Abschreckung. Nuklearwaffen werden, sowohl wegen ihrer Explosivkraft, die in Kilotonnen oder Megatonnen des stärksten konventionellen Sprengstoffs TNT ausgedrückt wird, als auch wegen ihrer Strahlenwirkung, nicht auf militärische Ziele beschränkt werden können, sondern immer auch, wenn nicht überwiegend, zivile Opfer haben. Ob ihr Einsatz trotzdem gerechtfertigt werden kann, ist immer umstritten gewesen. Sie können aber auch – je nach ihrer Zahl und Stärke und dem Ort, an dem sie zur Explosion gebracht werden – die Umwelt stören oder zerstören. So könnten Nuklearwaffen, in der Atmosphäre gezündet, die ohnehin bereits geschädigte Ozonschicht über weite Flächen zerstören, mit den bekannten langfristigen Folgen für die menschliche Gesundheit. Nuklearwaffen, die auf dem Boden explodieren, würden riesige Massen von Erdreich in die Atmosphäre schleudern, wo sie sich verbreiten und die Sonnenstrahlen abhalten würden, so dass die Temperaturen sinken und das Wachstum der Pflanzen angehalten würden. Angesichts solcher Folgen drängt sich die Einsicht auf, dass Nuklearwaffen nur einen Zweck haben können: Die Abschreckung von ihrem Einsatz. Dann aber können und müssen diese Waffen immer weiter vermindert und schließlich ganz abgeschafft werden – durch internationale Vereinbarungen, die nach ihrem Wesen um Überlebensrecht gehören.

In der Einleitung war bereits vom Wasserkreislauf die Rede, der ein wesentlicher Teil des Erdsystems und eine Bedingung für das Leben auf der Erde ist. Kein anderer Planet trägt Wasser in solcher Fülle und in allen drei Aggregatzuständen***. Aber nur 0,1% dieser Wassermassen nehmen an dem kurzfristigen Wasserkreislauf teil, den der Mensch nutzen kann. Die Leistungsfähigkeit dieses Kreislaufs stößt nun ebenfalls an Grenzen. Es hat sich gezeigt, dass die Nutzung der anderen Ressourcen der Erde mit einem vervielfachten Wasserverbrauch verbunden ist. So werden für die Gewinnung von 1 kg Trockenmasse Weizen 540l Wasser verbraucht, für Kartoffeln 640l, für Reis 680l, für Fleisch dagegen mehrere Tausend Liter. Gleichzeitig wird das Wasser in diesem kleinen Kreislauf durch Einleitung von Abfällen, durch Rückstände von Salz, Insektenvernichtungsmitteln und von Dünger immer mehr belastet. Es wird geschätzt, dass 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Offensichtlich wird man bei der Lösung dieses Problems an mehreren Stellen gleichzeitig ansetzen müssen. Nationale Regelungen reichen nicht, um einen Wasserkreislauf, der den ganzen Globus erfasst, auf wirksame Weise zu schützen.

Auch auf diesen Feldern werden global geltende, rechtlich bindende Regelungen geschaffen werden müssen. Mit den Gefahren für die Überlebensbedingungen werden auch Bedeutung und Umfang des Überlebensrechts wachsen. Das Verständnis des Staates als oberste politische Macht muss sich ändern. Sie dürfen sich nicht mehr ausschließlich an ihren nationalen Interessen orientieren. Sie müssen vielmehr ihre neue Verantwortung als Treuhänder für die Erde als ganze und für ihre Erhaltung als Lebensraum des Menschen auf sich nehmen.

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* In: The Superior Civilization. The New York Review of Books, 26. Februar 2009
** In: Science 162 (1968) S. 1243-1248
*** Dazu und zum Folgenden s. Wolfram Mauser, Das blaue Gold: Wasser. In: Fischer, Wiegand (Hg.), Die Zukunft der Erde. Frankfurt 2005. S. 219 ff.