Sonntag, 6. Juni 2010

Atomwaffen und Zukunft

An Wegscheide: Verbreitung oder Abschaffung der Atomwaffen?

Die Langfassung dieses Artikels ist im Juli 2010 in der Zeitschrift SCHEIDEWEGE erschienen.

"Zum Bewusstseinswandel gehört ein tiefer Schreck,
dem man, wenn er einmal geschehen ist, nicht mehr
entlaufen kann."
Carl Friedrich von Weizsäcker

Neue Waffen – altes Denken

Keine Waffe hat die Politik der Staaten, ihre Strategie und die Struktur der internationalen Beziehungen so umgewälzt wie die Atomwaffe. Sie hat auch das Lebensgefühl unserer Epoche verändert: Die Menschheit muss nun mit dem Wissen leben, dass sie die Fähigkeit hat, sich selbst zu vernichten. Wie immer man sich bisher das Ende der Geschichte vorstellte: Dass es durch Selbstvernichtung der Menschheit herbeigeführt werden könnte, ist neu. Diese Gefahr führte auch zu der Scheu, die Atomwaffen nach Hiroshima und Nagasaki nochmals einzusetzen und einen Krieg zu riskieren, der gerade zu diesem Ende führen könnte. Eine Form des Krieges, nämlich der mit Atomwaffen geführte, schien dadurch undenkbar zu werden. Gleichwohl wuchs die Zahl und Zerstörungskraft der Atomwaffen bis zum Ende des Kalten Krieges ungeheuer an. Die Drohung mit ihrem Einsatz wurde zur Grundlage der Strategie.

Damit stellt sich ein neues ethisches Problem: Da ein mit Atomwaffen geführter Krieg weltweite Wirkungen hätte, erstreckt sich die Verantwortung derer, die über den Einsatz solcher Waffen zu entscheiden haben, auf den ganzen Planeten. Sie erfasst nicht nur die Objekte, die als Ziele gewählt werden, sondern auch diejenigen, die von der Wirkung der Waffen indirekt betroffen sind, einschließlich der Menschen, deren Heimat unbewohnbar würde oder die – weil ihre Eltern nuklearer Strahlung ausgesetzt waren – mit Missbildungen geboren würden. Sie erstreckt sich also auch weit in die Zukunft.

Der Versuch, die Probleme neuer Waffen technisch, also durch neue Waffen zu lösen oder durch neue Techniken zu überwinden – z. B. durch den Aufbau von Raketenabwehr-Systemen – schiebt die Probleme nur hinaus. Abwehr-Systeme sind nicht absolut wirksam und können durch neue Techniken überwunden werden. Vielmehr müssen der Waffentechnik Grenzen gesetzt werden, die sich aus der Verantwortung für den Menschen und seine Zukunft ergeben. Das muss die Bereitschaft einschließen, auch auf die schon vorhandenen Waffen zu verzichten.

Gerade weil die Atomwaffen seit 1945 nicht mehr eingesetzt wurden, sind die mit ihrem Einsatz verbundenen Gefahren und die daraus erwachsene neue Verantwortung Vielen nicht mehr bewusst. Die umfassendsten Studien darüber stammen aus den achtziger Jahren des 20. Jh. Dazu kamen in den letzten Jahren Studien über die Wirkungen von Kernexplosionen auf die Atmosphäre. Hier eine kurze Zusammenfassung der Wirkungen:
  • Hitze- und Schockwellen würden Tod und Zerstörung auf einer Fläche von – je nach Sprengkraft und Höhe, in der die Explosion ausgelöst wird – bis zu 500 qkm, also auf dem Gebiet einer Großstadt, bewirken.

  • Kernwaffen wirken als Zünder: Der bei der Explosion entstehende Feuerball würde sowohl in städtischen Gebieten wie auch außerhalb Brände von einem noch nie da gewesenen Ausmaß entzünden. Diese Brände würden Fahnen von Rauch und giftigen Chemikalien erzeugen. Ihre kumulative Wirkung in einem Nuklearkrieg könnte das Klima verändern.

  • Bei Kernexplosionen auf der Erdoberfläche werden mit dem Feuerball riesige Mengen (in der Größenordnung von 100 000 t pro Megatonne Sprengkraft) Staub, Erdreich und Trümmer in die Luft geschleudert. Die größeren Teilchen, die etwa die Hälfte der Radioaktivität tragen, fallen innerhalb eines Tages wieder auf die Erde und vergiften hunderte von Quadratkilometern. Diese Radioaktivität kann die für Menschen tödliche Dosis überschreiten.

  • Bei Kernexplosionen oberhalb der Erdoberfläche würden alle radioaktiven Teilchen in die obere Troposphäre oder in die Stratosphäre geschleudert und zu einem länger dauernden, weltweiten radioaktiven Niederschlag führen. Wie lange diese Teilchen strahlen würden, hängt von der Halbwertzeit der Stoffe ab, aus denen sie zusammengesetzt sind. Erst wenn sie zerfallen sind – was Hunderte von Jahren dauern kann – hört die Strahlung auf.

  • Kernexplosionen in der höheren Atmosphäre oder im Weltraum würden einen elektromagnetischen Impuls auslösen, der starke elektrische Ströme erzeugen und elektrische Geräte und Nachrichtenverbindungen auf Gebieten von der Größe eines Kontinents beschädigen könnte.

Es hat noch keinen Krieg gegeben, in dem von beiden Seiten Kernwaffen eingesetzt worden wären. Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Fall innerhalb von kürzester Zeit Entscheidungen getroffen werden müssten, deren Tragweite niemand überblicken könnte. Dazu kommt, dass die Möglichkeiten zur Steuerung des Konflikts nach den ersten Schlägen eingeschränkt würden, weil man erwarten müsste, dass die Beobachtungs- und Kommunikations-Systeme entweder durch einen von Kernwaffen ausgelösten elektrischen Impuls oder durch die Störung von Satelliten lahmgelegt würden. Diese Wirkungen der Kernwaffen machen es zweifelhaft, ob und wann ihr Einsatz ethisch und rechtlich je zu rechtfertigen wäre.

Aber diese Waffen existieren weiter und die Zahl der Staaten, die über sie verfügen, wächst an, wenn auch nicht so rasch, wie zunächst befürchtet worden war. Vielleicht noch größer ist das Risiko, dass Atomwaffen in die Hände von Gruppen geraten, die sie als Instrumente des Terrors einzusetzen bereit sind. Die alte Frage der Einhegung von Krieg und Gewalt stellt sich, angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, mit neuer Dringlichkeit. In der jetzigen Lage sind zwei Wege erkennbar:
  • Die Fortsetzung des bisherigen Weges mit Tausenden von Kernwaffen in den Händen von immer mehr Staaten und vielleicht auch anderen Gruppen

  • Eine Kehre: Die schrittweise Verminderung der Bedeutung und der Zahl der Kernwaffen mit dem Ziel ihrer vollständigen Abschaffung

Der erste Weg macht eine fortschreitende Schwächung des Nichtverbreitungs-Regimes unvermeidlich. Wie sollen die Kernwaffenbesitzer begründen, dass sie ihre privilegierte Position auf immer behalten wollen? Wenn sie ihre Sicherheit auf Kernwaffen gründen, warum sollten andere Staaten nicht das gleiche Recht haben? Sobald aber eine kritische Menge von Staaten Kernwaffen besitzt, droht eine beschleunigte Verbreitung, die dann unumkehrbar werden kann. Auch wenn sich alle Kernwaffenbesitzer dazu verpflichten würden, diese Waffen nur zur Abschreckung von einem Kernwaffeneinsatz zu verwenden, wäre äußerst zweifelhaft, ob die Abschreckung funktionieren würde. Die Gefahr eines versehentlichen Einsatzes würde schon nach den Gesetzen der Statistik wachsen, ebenso die Gefahr, dass gewaltbereite nichtstaatliche Gruppen solche Waffen erwerben. Außerdem ist zu befürchten, dass aufsteigende Mächte versuchen würden, durch fortschreitende Rüstung die Parität mit den etablierten Mächten herzustellen. Ob diese dies hinnehmen würden, ist mindestens zweifelhaft.

Es muss sich die Einsicht durchsetzen, dass uns die Waffentechnik an einen Punkt geführt hat, an dem die Unterscheidung zwischen Sieg und Niederlage unmöglich, die Verhinderung eines mit Kernwaffen geführten Krieges das überragende gemeinsame Interesse geworden ist. Vier erfahrene ältere amerikanische Staatsmänner haben vorgeschlagen, die Atomwaffen abzuschaffen. Präsident Obama hat dies zum Ziel seiner Politik erklärt. Der VN-Sicherheitsrat hat den Vorschlag unterstützt.

Mit seiner Verwirklichung wird eine Umgestaltung des Staatensystems verknüpft sein. In einem System von Staaten, die vereinbart haben, die gefährlichsten Waffen gemeinsam und unter gegenseitiger Überwachung abzuschaffen, kann nicht mehr die Erhaltung der Macht des einzelnen Staates oberste Richtschnur für das politische Handeln sein, sondern die Entwicklung und Erhaltung einer funktionsfähigen globalen Ordnung, die ohne die Drohung mit der Vernichtung des Gegners auskommt. Das Staatensystem begibt sich dadurch auf dem Weg zur Bildung einer Rechtsgemeinschaft, die auch Regeln zum Schutz der gemeinsamen Lebensbedingungen umfassen muss. Die Ausarbeitung, Anwendung und Durchsetzung dieser neuen Kategorie des Rechts würde zur wesentlichen Aufgabe der Staaten werden.

Aus den Gefahren, vor denen wir stehen, könnten sich so neue Chancen entwickeln. Diesen Chancen sollte sich nun die internationale Debatte zuwenden.