Donnerstag, 28. Mai 2009

Gute und schlechte Atombomben?

Buchrezension: Michael Rühle, "Gute und schlechte Atombomben: Berlin muss die nukleare Realität mitgestalten", Edition Körber Stiftung 2009

Selten sind politische Betrachtungen so schnell unzeitgemäß geworden wie diejenigen, die Michael Rühle in seinem kleinen Buch mit dem – wohl provozierend gemeinten – Titel „Gute und schlechte Atombomben“ angestellt hat. Er warnt darin die deutsche Öffentlichkeit, die – wie er meint – von einer sicherheitspolitischen Gegenelite fehlgeleitet wird, Atombomben als schlechthin böse zu verstehen. Sie seien vielmehr „der ultimative Ausdruck staatlicher Souveränität“. Eine globale Ordnungsmacht wie die USA könne auf nukleare Drohungen – zumindest rhetorische (!) – nicht verzichten.

Das Buch war kaum erschienen, als der Präsident der „globalen Ordnungsmacht“ erklärte, die USA wollten Friede und Sicherheit ohne Kernwaffen herstellen. Und das war nicht nur Rhetorik: Obama beschrieb in seiner Rede in Prag auch die ersten Schritte auf dem Weg, den die USA auf dieses Ziel hin gehen wollen.

Wenn Rühle eine so deutliche Erklärung von Obama – wie es scheint – nicht erwartet hat, so gibt es dafür einen Grund: Er hat – wie leider viele Strategie-Experten – eine Seite der Diskussion über Kernwaffen einfach nicht zur Kenntnis genommen, die seit langem auch in den USA geführt wurde: Die Entwicklung der Kernwaffen war immer von der Frage begleitet, ob Waffen dieser Art wirklich eingesetzt werden dürfen. Diese Frage wurde zunächst von Wissenschaftlern aufgeworfen, die an der Entwicklung dieser Waffen beteiligt waren. Die Bedenken standen auch hinter dem Angebot der USA von 1946, die Kernwaffen zu internationalisieren. Sie traten in den Hintergrund, nachdem die Sowjetunion ebenfalls Atomwaffen erworben hatte. Sie tauchten wieder auf, als man vor der Entscheidung stand, Wasserstoffbomben mit einer tausendfach stärkeren Wirkung zu bauen. Sie führten den sowjetischen Wissenschaftler Sacharow auf den Weg zum Dissidenten. Die Bedenken wurden aber auch von einem amerikanischen Präsidenten geteilt, von dem man dies nicht erwartet hätte: Reagan glaubte nicht an die Logik der Abschreckung. Er ließ sich allerdings von seinen Experten zu einer technischen Alternative verleiten: Eine wirksame Raketenabwehr sollte die Kernwaffen obsolet machen. Das erwies sich freilich als Illusion: Es gibt auch heute, ein Vierteljahrhundert später, noch keine zuverlässigen Abwehrsysteme. Das Problem ist technisch nicht lösbar.

Kissinger, Shultz, Perry und Nunn waren nicht die Ersten, die aus ihren Erfahrungen den Schluß zogen, man könne die Risiken der nuklearen Abschreckung nicht für immer hinnehmen. Rühle scheint nur die Experten zu kennen, die – wie er selbst – meinen, das nukleare Gleichgewicht im Kalten Krieg habe für „nahezu perfekte Sicherheit“ gesorgt. Hat er sich nie mit den Krisen beschäftigt, die an den Rand eines Nuklearkrieges führten? Hat er die Fälle nicht zur Kenntnis genommen, in denen eine falsche Interpretation von Daten oder ein Versagen von Sicherungssystemen gerade noch rechtzeitig vor dem Einsatz von Kernwaffen korrigiert werden konnten? Hat er die Studien über die Wirkung von Nuklearkriegen gelesen? In seinem Buch schweigt er dazu.

Rühle schildert ausführlich die Gefahren der Verbreitung von Kernwaffen. Niemand wird sie bestreiten. Aber hat er die Motive für den Versuch mehrerer Staaten, Kernwaffen zu erwerben, richtig verstanden? Wie kann er einerseits die Kernwaffen als „ultimativen Ausdruck staatlicher Souveränität“ bezeichnen und die nukleare Abschreckung als Weg zu einer fast perfekten Sicherheit bezeichnen und andererseits den „Habenichtsen“ den Zugang zu diesen Waffen verwehren wollen? Er irrt, wenn er meint, die Abrüstungsklausel im Nichtverbreitungsvertrag sei erst in jüngster Zeit entdeckt und von einigen Staaten als Vorwand zur Rechtfertigung ihrer eigenen Rüstungsanstrengungen benützt worden. Ohne diese Klausel wäre der Vertrag nicht geschlossen worden. Er wäre 1995 auch nicht auf unbegrenzte Zeit verlängert worden, wenn damals nicht die Hoffnung bestanden hätte, dass USA und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Abrüstung wirklich ernst machen würden. Nur diese Erwartung machte es für viele Habenichtse erträglich, die Benachteiligung gegenüber den Nuklearstaaten weiter hinzunehmen.

Die Kluft zwischen den beiden Gruppen wird zugeschüttet werden müssen. Dafür gibt es zwei Wege: Entweder immer mehr Habenichtse erwerben Kernwaffen, oder die Kernwaffenstaaten zeigen sich bereit, ihre Privilegien allmählich abzubauen. Diesen Weg will Obama gehen. Je mehr Unterstützung er dafür bekommt, umso größer ist die Chance, auf diesem Weg voranzukommen.

Rühle schildert die Schwierigkeiten dieses Weges und sie sind tatsächlich groß. Sie könnten sogar größer werden, je mehr man sich dem Ziel nähert. Rühle bezeichnet das Konzept der „nuklearen Totalabrüstung“ als „zutiefst tautologisch“, weil es nur unter Bedingungen erreichbar sei, die einen Nuklearwaffenbesitz ohnehin überflüssig machen. Was ist daran tautologisch? Das Ziel ist eines, die Wege dorthin konvergieren. In der Tat wird der fortschreitende Abbau von Kernwaffen immer größere Transparenz, also immer wirksamere Überwachung erfordern Aber diese wird eher akzeptabel, wenn sich ihr auch die Kernwaffenstaaten unterwerfen. Fordern nicht auch die technische Entwicklung und die wirtschaftliche Interdependenz immer größere Transparenz? Sie kann gleichzeitig die Vorbereitung von Kriegen erschweren. Sie wird auch die Möglichkeiten steigern, durch internationale Zusammenarbeit terroristische Organisationen zu überwachen und ihre Aktionen zu verhindern.

Rühle hat Recht: Wir brauchen eine tabufreie Sicherheitsdebatte. Aber sie muß so breit wie möglich geführt werden. In einer Demokratie kann sie nicht – wie er meint - eine Domäne der Elite bleiben.

Schließlich fragt sich der Leser von Rühles Schrift: Bleibt er bei seiner Forderung eines Schulterschlusses mit den USA? Dann wird er nach der Prager Rede Obamas seinen Standpunkt ändern müssen.